5.
„Dichter sein. Unbedigt“
Dieser Titel des Hölderlin-Films von Hedwig Schmutte/Rolf Lambert (2020) verweist darauf, wie sehr Hölderlin ein Dichter sein wollte. Dabei erscheinen vier Aspekte wichtig:
1. Berufung und Beruf
Hölderlin hat nach dem Verlassen des Tübinger Stifts auf eine sichere Karriere als Pfarrer verzichtet. Er sah sich als Dichter. Dazu gehörte für ihn auch, dass er als solcher anerkannt wurde von seiner Dichterei leben konnte. Beides ist ihm verwehrt geblieben. Er war zeitlebens auf die Unterstützung seiner Mutter angewiesen (widerwillig). Der verehrte Schiller zeigte nur marginales Interesse. Seine (späten) Gedichte fanden keinen Verleger. Sein Roman brachte keinen wirtschaftlichen Erfolg.
2. Anlehnung an die Dichtung der Antike
Die griechische Antike steht bei Hölderlin für die verlorene Einheit von Mensch, Natur, Geist und Gott. Der Dichter ist Priester und Seher, der in seinem Werk diese Einheit wieder hervor-„schreiben“ soll / kann. In der Zeit nach 1800 hat sich Hölderlin intensiv mit Pindas auseinandergesetzt (und Übersetzungen von dessen Dichtungen erstellt). Hölderlins eigenen metrisch freien Gesänge (Hymnen) wurden maßgebend von Pindar beeinflusst. Auf Pindar geht wahrscheinlich auch das Bild des Schwans als Metapher für den Dichter zurück. „Der Singschwan kann, im Vergleich zu gewöhnlichen Schwänen, ausdrucksvoll singen. Von diesem Umstand leitet sich seit der Antike die metaphorische Gleichsetzung des Schwans mit dem Dichter her. So nennt z. B. Horaz den Dichter Pindar den „dirkäischen Schwan“ (Carmina IV), eine Metapher, die noch zu Goethes Zeiten gebräuchlich war und sich auch im Wörterbuch der Gebrüder Grimm findet“ (Wikipedia, Singschwan).

3. Chiffren der Revolution
„Die Dichtungen nach 1800 verbergen in schwer zugänglicher mythologischer Metaphorik die griechisch republikanischen Ideale und weisen prophetisch auf eine zukünftige Zeit. Dieses Verbergen der Ideale in dunkler mythologischer Rede hat das Spätwerk Hölderlins zahlreichen Deutungen ausgesetzt. Die Deutung Bertaux‘, dass nach dem Scheitern der schwäbischen Revolutionsversuche Hölderlin in seiner Dichtung die jakobinische Utopie einer Wiederkehr Griechenlands, die soviel Parallelen mit der antiken Drapierung der ersten französischen Republik aufweist, der verschwiegenen „Mutter Erde“ anvertraue für zukünftige Zeiten, hat, im Blick auf das von den Idealen der Freiheit, Gleichheit, Schönheit und brüderlichen Liebe geprägte Gesamtwerk, die größte Wahrscheinlichkeit für sich. In der Tradition der Dichter, die, wie H. W. Jäger nachwies, in der Verehrung der Griechen und ihrer Polis-Verfassung antiabsolutistische, demokratische Ziele verfolgten, nimmt H. den höchsten Rang ein. Im wesentlichen rhythmisch vollendete, klare, wohltönende Lyrik, auch in der Prosa des „Hyperion“ und den Versen des Dramas „Empedokles“, birgt und verbirgt sein Werk in mythologischer Gestalt Hoffnungen und jugendlich reine Ideale, deren Interpretation und geschichtliche Einordnung vor dem Hintergrund der Französischen Revolution zugleich die Aufgabe ist, diese Dichtung in ihrer Größe und in ihren idealistischen Grenzen darzustellen.“(zitiert aus: Deutsche-Biographie.de).
Als Dichter konnte Hölderlin den politischen Kampf mit anderen Mittel fortsetzen, indem er sie in mythisch-idealistische Verse (ver-)kleidete.
4. Dichten als Selbstheilung
Es ist bemerkenswert, dass Hölderlin in Phasen, in denen ihm Wahnsinn und geistige Umnachtung zugeschrieben wurden, exzellente Werke geschrieben hat. Das gilt insbesondere für die Zeit nach 1800, die in der Hölderlinforschung als besonders produktiv gilt. Die hier entstanden Hymnen haben die Bedeutung Hölderlins begründet.

Dieser Widerspruch lässt sich wie schon im Kapitel über den Wahnsinn Hölderlins mit der Eigenart einer Borderline-Störung erklären. „Betroffene erleben sich als Opfer ihrer eigenen heftigen Stimmungs- und Gefühlsschwankungen, was zu extremer innerlicher Anspannung führen kann, die dann als unerträglich und peinigend erlebt wird. Viele setzen selbstschädigende Verhaltensweisen ein, um diese Anspannung zu verringern. Vor allem Schmerz spüren viele während der extremen Spannungsphasen kaum oder nur sehr wenig. Selbstverletzungen, Drogeneinnahmen und hoch riskante Aktivitäten lindern die Anspannung sofort, werden dadurch jedoch rasch zu suchtartigem Problemverhalten. Menschen, die an einer Borderline-Persönlichkeitsstörung leiden, fühlen sich innerlich zerrissen, haben ein gestörtes Selbstbild und eine gestörte Körperwahrnehmung. Sie leiden unter massiven Ängsten vor dem Alleinsein und instabilen Beziehungen.“ (zit aus www.neurologen-und-psychiater-im-netz.org/psychiatrie-psychosomatik-psychotherapie/stoerungen-erkrankungen/borderline-stoerung/).
Die geschilderten Symptome werden von der Umwelt Hölderlins als „Wahnsinn“ eingestuft. Es liegt nahe, dass das Dichten für Hölderlin eine Art Selbstheilung dargestellt hat. Das Schreiben hat ihm möglicherweise geholfen, die inneren Anspannungen zu lindern und dichterisch produktiv zu sein.
„Hälfte des Lebens“ und die Rolle des Dichters
Die „holden Schwäne“ sind im Verständnis von Hölderlin als Bild für den Dichter zu verstehen. Pindar als „dirkäischer Schwan“ leuchtet auf. Die Rolle des Dichters besteht demnach darin, die Einheit von Gott, Mensch, Geist und Natur in lyrische Worte zu fassen, ins Bewusstsein zu heben und dadurch zu deren Verwirklichung beizutragen. Der Begriff des „Heilignüchternen“ mag hier seine Erklärung finden.

Hölderlin hat diese idealisierte Vorstellung vom Dichtertum als seine Berufung angesehen. In der „Hälfte des Lebens“ bezieht sich das „Wehe mir“ auch auf die Angst vor dem Scheitern dieser mythisch verklärten Lebensaufgabe.