3. Wahnsinn

3.

Der Wahnsinn hat Methode?

Über die psychische Erkrankung von Hölderlin ist immer wieder geschrieben, diskutiert, geforscht und spekuliert worden. 1978 hat der französische Literaturwissenschaftler Bertaux die Diskussion neu entfacht, indem er in Hölderlin nicht als Geisteskranken, sondern „als edlen Simulanten“ sieht, der seinen „Wahnsinn“ nur vorgetäuscht hat.

Dies mag zutreffend sein für den erfolgreichen Versuch, die drohende Gefangennahmen im Zusammenhang mit dem Hochverratsprozess gegen Isaak von Sinclair und seine Mitverschwörer zu entgehen. Ein Psychater bescheinigt Hölderlin vollkommen Wahnsinn, der in der attestierten Form zu diesem Zeitpunkt nur simuliert war. Hölderlin wird dadurch vor der Einkekrkerung bewahrt. Auch in seiner Zeit im „Hölderlinturm“ hat er möglichweise gegenüber „lästigen“ Besuchern den Wahnsinnigen gegeben, um sich ihrer zu erwehren. Hier hatte der „Wahnsinn“ tatsächlich Methode.

Borderline-Persönlichkeit

In vielen Phasen seines Lebens sind jedoch psychische Probleme sichbar geworden, die nicht auf vorgetäuschtem Irrsinn beruhen können. Am ehesten kann man den „Wahnsinn“ Hölderlins als eine Borderline-Störung verstehen. Dieses Krankheitsbild ist erst in den letzten zwanzig Jahren in den Katalog anerkannter psychischer Krankheiten aufgenommen worden.

Kennzeichen einer Borderline Störung (nach DSM-Klassifizierung)

Verzweifeltes Bemühen, tatsächliches oder vermutetes Verlassenwerden zu vermeiden.

Ein Muster instabiler und intensiver zwischenmenschlicher Beziehungen, das durch einen Wechsel zwischen den Extremen der Idealisierung und Entwertung gekennzeichnet ist.

Störung der Identität: ausgeprägte und andauernde Instabilität des Selbstbildes oder der Selbstwahrnehmung.

Impulsivität mit potenziell selbstschädigenden Folgen.

Wiederholtes suizidales Verhalten, Selbstmordandeutungen oder -drohungen oder Selbstverletzungsverhalten.

Affektive Instabilität infolge einer ausgeprägten Reaktivität der Stimmung, z. B. hochgradige episodische Misslaunigkeit, Reizbarkeit, Depression oder Angst.

Chronische Gefühle von Leere.

Unangemessene, heftige Wut oder Schwierigkeiten, die Wut zu kontrollieren, z. B. häufige Wutausbrüche und länger andauernde Wut.

Vorübergehende, durch Belastungen ausgelöste paranoide Vorstellungen oder schwere dissoziative Symptome.

Alfred Hrdlicka, Hölderlin

„Hälfte des Lebens“ als Beispiel für eine Borderline-Störung

Man kann das Gedicht auch unter dem Aspekt einer Borderline-Störung betrachten, in dem einige der typischen Symptome dieser Krankheit auftreten.

1. Die „bunte“ Landschaft als Ideal, als Heimat, Zugehörigkeit und die „Schwäne“ als starke Idealisierung des Dichter-Seins und der Liebe („Susette“).

2. Der krasse Umschlag in Depression und Angst vor Leere, Kälte, bis hin zu der paranoiden Vorstellung, eingemauert zu werden und verlassen zu ein.

In dieser Hinsicht ist das Gedicht ein Muster für die psychische Instabilität, unter der Hölderlin sein Leben lang gelitten hat. Er hat seinen „Platz im Leben“ nicht gefunden, war unsicher in seiner Berufung als Dichter. Die Idealisierung von Schiller und dessen letztliche Abweisung verstärkte massiv seine Instabilität und Selbstzweifel. Seine impulsiven Ortswechsel / Stellenwechsel hatten selbstzerstörerischen Tendenzen und brachten ihn an seine körperlichen und psychischen Grenzen. Es kann davon ausgegangen werden, dass nicht die Umstände und die Enttäuschungen bei Hölderlin zu einer psychischen Störung geführt haben, sondern umgekehrt: Die Träume von einem erfolgreichen, finanziell abgesicherten Dichterleben, der großen Liebe und der Hoffnung auf eine Veränderungen der gesellschaftlichen Verhältnisse scheitern fast zwangläufig auf Grund der ausgeprägten Persönlichkeitsstörung.

Ungeachtet dessen hat er großartige Werke geschaffen. Im Rückzug in die Welt des Schreibens war es offensichtlich möglich, die Spannungen und Erregungszustände der Krankheit in produktive Energie umzusetzen.